Die Schatzjungfer
Ein Handwerksbursche, der kein Schlafgeld für die Herberge mehr hatte, wanderte gegen Abend von Osterode weiter nach Dorste. Am Lichtenstein machte er sich ein Lager unter den hohen Bäumen. Es war warm, denn es war die Johannisnacht. Aber er konnte nicht einschlafen. Es wurde Mitternacht. Da sah er auf dem Burgbleek zwölf weiße Jungfrauen tanzen. Plötzlich trennte sich eine Jungfrau von den anderen, kam zu ihm und stellte den rechten Fuß auf seine Knie. Der Bursche wusste nicht, was er tun sollte und rührte sich nicht. Noch zweimal kam sie zu ihm. Aber er schwieg. Um 1 Uhr nachts beim Kirchturmschlag waren die Jungfern verschwunden.
Am anderen Morgen erwachte er durch Hundegebell. Ein Schäfer trieb seine Herde vorbei. Er erzählte dem Schäfer, was ihm begegnet war. Der Schäfer sah ihn staunend an und sagte: "Ihr müsst ein Sonntagskind sein. In der nächsten Johannisnacht müsst ihr wieder hier sein. Wenn die Jungfer wieder erscheint, müsst ihr sie fragen nach ihrem Begehr." Der Bursche ließ sich das nicht zweimal sagen. Er suchte sich einen Dienstherren in Dorste und war in der nächsten Johannisnacht wieder zur Stelle. Als es 12 Uhr geschlagen hatte, erschienen die Jungfrauen wieder und tanzten.
Die Jungfrau kam wieder und stellte ihren Fuß auf seine Knie. Er fragte: "Was willst du von mir?" Sie winkte ihm und zeigte ihm eine Stelle an der alten Mauer. "Hier ist ein Schatz vergraben, den wir versteckt hatten. Aber ehe wir ihn wieder heben konnten, wurden wir ums Leben gebracht. Nun müssen wir tanzen, bis der Schatz gehoben wird. Du kannst uns erlösen, wenn du in der Johannisnacht den Schatz ausgräbst. Drei unschuldige Jungfrauen, zwei reine Junggesellen und ein Knabe, der dir mit einem Licht leuchtet, müssen zugegen sein. Sprecht aber kein Wort, was auch kommen mag. Denn nur einmal kannst du nach dem Schatz graben." Damit verschwand Sie.
In der nächsten Johannisnacht ging es ans Werk. Ein Handwerksbursche, drei unschuldige Jungfrauen, zwei reine Geselln und ein Knabe mit dem Licht. Als sie um Mitternacht zu graben anfingen, hörten sie unheimliche Geräusche. Geister erschienen und bauten einen Galgen auf. Dann fuhr eine Kutsche mit vier feurigen Pferden ohne Köpfe vorbei. Ein Junge ohne Kopf lief hinterher. Er schrie: "Ich will mit! Ich will mit!" Im Eifer sprang er über den Jungen hinweg, der das Licht hielt. Der Junge schrie in seiner Angst: "Alle guten Geister loben Gott den Herrn!" Er ließ das Licht fallen und schlug ein Kreuz. Im Nu war der Spuk verschwunden. Aber der Schatz war nun für sie verloren. Betrübt gingen alle Heim. Noch manche Johannisnacht wartete der Bursche, aber die Schatzjungfrauen ließen sich nicht wieder sehen.